Der Krieg in der Ukraine: vier Zukunftsszenarien

Die Geopolitik hat in der Bundesrepublik Deutschland einen schweren Stand. Die Rolle unseres Landes in der Welt wird in Politik und Medien gern blauäugig und quasi-romantisch verklärt – das zeigte nicht zuletzt der Afghanistan-Einsatz, bei dem alle beteiligten Instanzen, von der Bundeswehr bis zu den politischen Entscheidungsträgern, daran scheiterten, der Öffentlichkeit begreifbar zu machen, was man am Hindukusch eigentlich erreichen wollte. Wer das eigene Handeln schon nicht wirklich erklären kann („Nie wieder Auschwitz!“ hier, „Freiheit am Hindukusch“ dort), der versagt auch bei der Interpretation der Züge seines Gegenübers. Das Rätselraten beginnt nun über die Frage, was Wladimir Putin eigentlich in der Ukraine will. In seinem Kopf blicken können wir nicht; betrachten wir das, was übrigbleiben könnte.

Vier Szenarien ohne viel Hoffnung

Immerhin ist das Problem nicht ausschließlich (aber besonders) auf Deutschland beschränkt. Westliche Beobachter tun sich u.a. deswegen so schwer daran, den Krieg in der Ukraine zu verstehen, weil sie versuchen, einen östlichen Konflikt, eine östliche, postsowjetische Mentalität in eine westliche Nomenklatur zu verpacken. Dazu kommt, dass die Beobachter und Experten selbst in ihrer eigenen Blase feststecken und sich beständig gegenseitig bestätigen – wir erinnern uns an die Wahlprognosen vor der US-Präsidentschaftswahl 2016, kurz bevor Donald Trump gewählt wurde.

Alles Wissenswerte über die Vorgeschichte des lange schwelenden Konflikts zwischen der Ukraine und Russland erfahren wir natürlich auch aus unseren Mainstream-Medien. Diese „Quellenlage“ reicht aber für den durchschnittlichen Bürger nicht, um sich das Handeln Putins erklären zu können. Bevor wir uns daher auf die wahrscheinlichsten Szenarien eines Kriegsausgangs stürzen, müssen wir einige Grundsätze festlegen, die es uns erst erlauben, die Szenarien durchzuspielen:

  1. Putin ist kein Wahnsinniger. Einfache Erklärungen für komplexe Sachverhalte sind gefragter denn je. Dass Putin einfach geisteskrank geworden sei, mag für Durchschnittsbürger naheliegend sein, es handelt sich tatsächlich aber nur eine nette Umschreibung für „Ich verstehe all das nicht“.
  2. Russische Propaganda ist russische Propaganda, ukrainische Propaganda ist ukrainische Propaganda. Wir sollten nicht alles glauben, was im Internet steht. Wer als Deutscher ernsthaft mit dem Argument der „Denazifizierung“ hantiert, ist genauso fehlgeleitet wie diejenigen, die tatsächlich glauben, dass Putin zum Spaß Zivilisten töten lässt.
  3. Die NATO wird nicht aktiv in den Krieg eingreifen. Wer weiß, was eine „Flugverbotszone“ bedeutet, wird sich davor hüten, eine solche einzurichten – in den NATO-Stäben kann man das voraussetzen.

Szenario 1: die Wohlfühllösung

Nehmen wir für einen Moment an, dass alles stimmt, was wir in den westlichen Medien lesen können: Putins Armee ist schlecht ausgebildet, noch schlechter vorbereitet, von ständigen Logistikproblemen und mangelnder Moral geplagt. Können die ukrainischen Truppen dann den russischen Vormarsch brechen, vielleicht sogar streckenweise Land zurückerobern?

Selbst wenn dem so wäre: Russland befindet sich an einem Punkt, an dem so viel in diesen Krieg investiert wurde, dass ein Rückzug mit anschließendem Status quo ante bellum überhaupt nicht in Frage kommt. Ganz zu schweigen davon, was ein solcher Gesichtsverlust für Putin selbst bedeuten könnte.

Für viele im Westen scheint das aber die wünschenswerteste Option zu sein, obgleich keines der grundlegenden Probleme, die überhaupt erst zum Krieg führten, gelöst wäre. Was folgen würde, wäre vermutlich ein jahrelanger hybrider Krieg, zwischen Propaganda, Drohnenangriffen und Artilleriebeschuss. Immerhin das klingt vertraut, aber ist in dieser Konstellation eher unwahrscheinlich.

Szenario 2: die tschetschenische Lösung

Vermutlich hätte Putin den Krieg gerne beendet, bevor im Westen überhaupt jemand davon mitbekommen hätte. Doch der russische Vormarsch „tritt auf der Stelle“, wie man in unseren Medien jetzt lesen kann. Ist das die Ruhe vor dem Sturm?

Tatsächlich ließe sich aufgrund der Verlautbarungen aus dem Kreml vermuten, dass Moskau die Einnahme der gesamten Ukraine ins Auge gefasst hat. Das bedeutet: Keine kurzfristige „Rein-Raus-Aktion“, sondern eine langfristige Neugestaltung der Landkarte – vermutlich mit einer neuen, Moskau gewogenen Regierung. Ob das ukrainische Volk diesen „Vichy-Staat“ langfristig akzeptiert, ist mindestens fraglich, ein blutiger Guerillakrieg wie ihn die Ukrainer bereits nach Ende des Zweiten Weltkriegs kämpften, wäre aber vorprogrammiert. Auch ein Wladimir Putin wird darüber genau nachdenken müssen – und er wird sich an Tschetschenien erinnern.

Der zweite Tschetschenienkrieg dauerte zehn Jahre, wurde mit enormer Grausamkeit geführt und kostete tausende Menschenleben. Erst dann gelang es Putin, militärische Siege auch in politische Erfolge umzumünzen. Mit dem tschetschenischen Anführer Ramsan Kadyrow hat Moskau nun einen seiner treusten Vasallen aus dem ehemaligen Unruheherd an seiner Seite. Entscheidend ist auch, ob es in der Ukraine jemanden gibt, der ähnlich wie Ramsans Vater Achmat Kadyrow die Regierung auf einen prorussischen Kurs bringen kann und will. Vielleicht geht das Umdenken aber auch von Wolodymyr Zelenskyj selbst aus.

Szenario 3: die koreanische Lösung

Auch bei diesem Szenario gehen wir wie zuvor davon aus, dass Russland militärisch noch nicht am Ende ist. Doch anders als bei den anderen Szenarien gibt es entweder militärische oder politische Gründe, die Ukraine nicht als Staat vollständig auszulöschen. Reicht die russische Kampfkraft nur für die Rückeroberung derjenigen Gebiete, die ohnehin von mehrheitlich russischsprachigen Menschen bewohnt werden oder fürchtet man in den russischen Generalstäben den Guerilla-Widerstand in den westlichen Gebieten der Ukraine, dann könnte eine Lösung am Verhandlungstisch zu einer Teilung der Ukraine führen, in einen mehr oder minder souveränen Westteil und einen sicherlich unter russischer Kontrolle stehenden Ostteil – wahlweise mit einer Demilitarisierten Zone (DMZ) zwischen beiden Gebieten, die ihrerseits die Form eines kleinen Streifens bis hin zu einem eigenen, neutralen Staat annehmen könnte.

Dieses Szenario gilt für viele prorussische Beobachter als das Beste, da es dem tatsächlichen oder zumindest hineininterpretierten Wünschen der Bevölkerung beiderseits der DMZ Rechnung tragen soll. Fraglich bleibt jedoch, ob der Guerillakrieg in den von Moskau kontrollierten Gebieten schnell abebbt und eine dauerhafte Friedensordnung so möglich ist. Ein Land, geteilt wie Nord- und Südkorea, könnte Ruhe finden – oder, wie in den 60er Jahren in Vietnam, die Saat für einen neuen, jahrzehntelangen, blutigen Konflikt legen.

Zumindest ist dieses Szenario maßgeblich davon abhängig, wie weit russische Truppen tatsächlich vorstoßen können – sollten sie weniger als zumindest das gesamte Gebiet der Volksrepubliken Donezk und Lugansk erobern, wäre das als Gesichtsverlust für Putin zu werten; erringt man im Osten der Ukraine in den kommenden Tagen und Wochen einen entscheidenden Durchbruch, würde man aber eher Kiew zu noch mehr Zugeständnissen zwingen wollen und der Krieg würde erst einmal fortgeführt – was uns zum nächsten Szenario bringt.

Szenario 4: Die ukrainische Lösung

Vielleicht müssen mit dem neuen Krieg in Europa alte Sicherheiten über Bord geworfen werden. Die Lage kann sich jederzeit ändern und plötzlich eines der obigen Szenarien oder eine komplett neue Lösung ins Spiel bringen. Doch danach sieht es nicht aus. Am wahrscheinlichsten müssen wir uns auf eine ukrainische Lösung einstellen; ukrainisch deswegen, weil andere Beispiele dafür nicht taugen – Vichy ist zu lange her und Tschetschenien wesentlich kleiner als die Ukraine. Vielleicht ist die Lösung für die Ukraine also ukrainisch – individuell auf das Land zugeschnitten, brutal und von chaotischen Zuständen geprägt. Es wäre ein Krieg, wie wir ihn in Europa nicht gesehen haben.

In diesem Szenario wäre der Konflikt mitnichten eingefroren, aber militärische Erfolge blieben nur lokal begrenzt. Die Frontlinien wären durchlässig und undefiniert, zivile „Kollateralschäden“ hoch und begleitet von den Desinformationskampagnen beider Seiten. Angriffe mit Drohnen und Marschflugkörpern auf erkannte Ziele wären an der Tagesordnung; hochbewegliche, unabhängig operierende Spezialkräfte und Freischärlergruppen würden hinter feindlichen Linien Anschläge, Geiselnahmen und Sabotageakte ausführen. Die russische Armee wäre langfristig involviert, während die westlichen Staaten die Ukraine mit Waffen vollpumpten.

Zelenskyj (oder wer auch immer) könnte zumindest über einen Teil des Gebiets die Kontrolle behalten (bei gleichzeitigem Demokratieabbau unter Verweis auf den Krieg), während die Russen ihrerseits die Regierung über die de facto besetzten Territorien übernehmen. Frieden, oder auch nur in relativer Form wie bei vorherigen Szenarien, wäre damit in weite Ferne gerückt. Der Krieg in Europa wäre damit auf Jahre verstetigt.

Zurück zum Realismus

Wenn die Äußerung des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler über Sinn und Zweck des deutschen Afghanistan-Einsatzes im Jahr 2010 einen Denkprozess anstoßen sollten, dann ist dieses Unterfangen gescheitert. Zwölf Jahre später ist Geopolitik weiterhin ein Fremdwort und die Menschen reagieren mit Unverständnis und Furcht auf den Krieg in der Ukraine, ganz so, als wäre er plötzlich vor ihrer Nase aufgeploppt.

Dass Krieg traditionsgemäß bei der eigenen Bevölkerung in den westlichen Demokratien einen schweren Stand hat, ist verständlich (im Gegensatz übrigens zu Russland, wo die Handhabung des zweiten Tschetschenienkriegs den „Mythos Putin“ mitformte). Angesichts von so viel Gewalt und Leid ist eine emotionale Reaktion, wie wir sie im Westen erleben, ebenfalls nur nachvollziehbar. Diejenigen, die aber seit Jahren und Jahrzehnten das Schicksal dieses Kontinents mitentscheiden, sollten sich fragen, welche Schritte sie denn unternommen haben, um eine langfristige Friedensordnung zu schaffen.

Die europäisch-russische Abwärtsspirale

Der Ukrainekrieg ist eine letzte Warnung; eine Warnung, wie sie Sarajevo oder das Karfreitagsgefecht war; eine Warnung, die gehört werden muss: Deutsche, versteht eure Rolle in der Weltpolitik! Deutschland ist das reichste, einflussreichste und, ja, stärkste Land in Europa. Wer, wenn nicht wir, hätten diesen Krieg verhindern können? Nicht durch stiefmütterlich geführte Telefonate mit Putin am Vorabend des Krieges, als ohnehin schon alles entschieden war. Sondern durch ganz einfaches Verständnis, wie diese Welt tickt. Eine Welt, die nicht länger durch den Gegensatz zwischen Ost und West definiert sein darf.

Deutschland, und damit Europa, müssten sich ihrer Rolle als tatsächliche „Mittelmacht“, als Vermittler zwischen diesen beiden Polen, gewahr werden. Die eindeutige Westorientierung in den Berliner Köpfen hat den Dialog mit dem Kreml über Jahre hinweg, spätestens seit 2014, vergiftet. Seitdem hat Europa wenig getan, um sich im Osten als vertrauenswürdiger Partner und Architekt eines tatsächlichen, modernen Systems für kollektive Sicherheit zu präsentieren. Da ist die NATO-Osterweiterung, der Kaukasuskrieg 2008, die wohlgemeinte, aber missbrauchte russische Enthaltung zur Flugverbotszone in Libyen 2011, der Euromaidan 2014, das vorzeitige Aus für die Pipeline South Stream über den Balkan, das US-amerikanische Engagement in der Ukraine, das deutsche Zögern bei Nord Stream 2 bis hin zu einem neuen Krieg: Irgendwie lief doch alles auf diesen Punkt hin und keiner in Europa will daran schuld gewesen sein. Hier hätte es Augenmaß, Verständnis für die europäischen und russischen Interessen gebraucht anstatt einer Hinhaltetaktik und Ablehnung. Aber, um auf die Einleitung zurückzukommen: Wie will man andere Länder verstehen, wenn man sich selbst nicht versteht?

Die Uhren in Berlin, in München, in Bochum und in Rostock, sie gehen nach. Hoffen wir, dass es nicht zu spät ist.

Hinweis: Die Bilder des Artikels wurden uns freundlicherweise vom Jungeuropa Verlag zur Verfügung gestellt. 

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Kommentare (2)

Manfred Latussek
Entspricht meiner eigenen Analyse. Es fehlt der Hinweis auf das Versagen der FRA und der DEU bei UKR MINSK I und II durchzusetzen.
Manfred Latussek
Entspricht meiner eigenen Analyse. Es fehlt der Hinweis auf das Versagen der FRA und der DEU bei UKR MINSK I und II durchzusetzen.

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